Eine Gewerkschafterin

gegen Stoiber und Strauß

Von der Kunst der Provokation

Die provokative Rhetorik war ein Instrument in Maria Webers gewerkschaftspolitischem Werkzeugkoffer.

(Bild: AdsD/FES) 

 

Beim Empfang im kleinen Kreis gibt Maria Weber unumwunden zu, dass sie sich an diesem Nachmittag "doch wohl parteischädigend" geäußert habe. Bereits am nächsten Morgen steht das Telefon in Essen nicht mehr still. Unionspolitiker wettern gegen die Aufmüpfigkeit der Gewerkschafterin.

 

Von  S t e f a n  R e m e k e

14. Dezember 2022 / Lesedauer etwa 6 Minuten

 

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Was war passiert? Maria Weber hatte Ende Oktober 1979 erneut eine Konferenz des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zur Bildungspolitik in Essen zusammengerufen. Seit 1973 fanden diese Konferenzen turnusgemäß alle drei Jahre in Maria Webers Heimat statt und wurden auch deshalb im internen Gewerkschaftsjargon als Marias Festival bezeichnet. Nur deutlicher als die vorangegangenen Essener Konferenzen rückte jene des Jahres 1979 in den Mittelpunkt des politischen Konflikts. Die im Oktober 1980 anstehende Bundestagswahl, bei der für die Unionsparteien der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß kandidieren sollte, warf ihre Schatten voraus.

 

Eine zusätzliche politische Begleitmusik lieferte die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, die bereits im Mai 1980 anstand. In diesem Bundesland hatte die sozialdemokratische Landesregierung die integrierten Gesamtschulen als neuen, ganztägigen Schultypus in besonderer Weise protegiert, was dazu beitrug, dass die bildungspolitische Kontroverse in den Wahlkämpfen zum Ausgang der siebziger Jahre auf die Gesamtschule als Schulform zugespitzt wurde. Dabei schienen die Linien der Verteidiger eines Bildungssystems, das sich für Arbeitnehmer öffnete, klar definiert zu sein. Hier standen Sozialdemokratie und Gewerkschaften geschlossen Seite an Seite. Und Maria Weber ließ gleich zur Eröffnung der Essener Konferenz keinen Zweifel aufkommen, dass sie in den Reihen der Gewerkschafter marschierte.

 

Maria Weber war über die fortschreitende Schwächung des Arbeitnehmerflügels in der CDU – vorsichtig ausgedrückt – verstimmt. Deshalb nahm sie diejenigen, die sich über die Kritik an der Gesamtschule daran beteiligten, unter Beschuss. Maria Weber spürte, dass die Distanz zu Positionen, die für die Arbeitnehmer von elementarer Bedeutung waren, mit der Verlagerung des Zentrums der Unionsparteien gen Süden zugenommen hatte. Sobald der bayerische Ministerpräsident das Wort ergriff, witterte sie parteipolitische Kurskorrekturen, die dem Gewerkschaftsflügel der CDU nicht gefallen konnten. Das Vertrauen, das die christlichen Gewerkschafter gegenüber dem jungen Helmut Kohl im Hinblick auf eine Öffnung der CDU für Arbeitnehmer noch gehabt hatten, war nach etlichen Rückschlägen geschwunden – und gegenüber Franz Josef Strauß endgültig nicht mehr vorhanden.

 

Die Bildungspolitik und die Gesamtschule lieferten dafür geeignete Projektionsflächen. Hier überschnitten sich für Maria Weber gleich mehrere Ziele, für die sie immer gekämpft hatte und die mit ihrem Lebensweg untrennbar verbunden waren: die politische Aufgabe der – mit Kontakten zu SPD und CDU arbeitenden – Einheitsgewerkschaft, gerechtere Bildungschancen für Arbeitnehmerkinder und eine partnerschaftliche Familienorganisation, die Frauen und Männer in gleichberechtigter Weise für Erwerbstätigkeit und Familienarbeit zuständig werden ließ, kurzum: eine neue Schulform, die – ohne Fokus etwa auf Hausgaben – vor allem förderte und nicht selektierte wie das gegliederte Schulwesen; eine neue Schulform, die als Ganztagsschule die Etablierung moderner Familienstrukturen unterstützte. Eine solche moderne Familie brauchte nach Maria Webers Überzeugung Institutionen wie die Gesamtschule – nicht zuletzt auch, um die gesellschaftliche Gleichberechtigung der Frau fester zu verankern.

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"Ahnungslose Wahlkämpfer"

"Machthungrige politische Strategen"

"Das ist Klassenkampf von oben"

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Weg mit den Samthandschuhen

 

Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, warum Maria Weber auf der Essener Konferenz die bayerische Schwesterpartei der CDU so heftig und wie folgt attackierte: "Kaum ein Bildungspolitiker lehnt die Gesamtschule von vornherein ab oder verteufelt sie gar als sozialistische Einheitsschule. Nein, nicht sie – die Bildungspolitiker –, sondern verantwortungslose und oft auch ahnungslose Wahlkämpfer und machthungrige politische Strategen agieren so. Während auf der einen Seite bei einigen Befürwortern der Gesamtschule Zaghaftigkeit und manchmal möchte ich sagen: leider Samthandschuhe vorherrschen, gibt es auf der anderen Seite die kompromisslose Ablehnung der Gesamtschule als politische Kampfansage und als Programm für kommende Wahlkämpfe. Der neueste Wortschatz zum Beispiel, den der bildungspolitische Sprecher der CSU-Landesgruppe im Bundestag für die Gesamtschulen (...) erfunden hat, spricht doch Bände. Hier wird ganz unverfroren von Billigpreis-Abitur, von Discount-Examina gesprochen. Diese Begriffe aus der Wirtschaft lassen wohl nicht nur vermuten, wer und was tatsächlich dahinter steckt. Dahinter steckt ein geschlossenes Konzept im gesellschaftlichen und politischen Machtkampf. Das ist Klassenkampf von oben, der sich des dreigliedrigen Schulsystems bedient, um auszulesen, um Eliten zu schaffen, um abzuschotten und damit traditionelle Machtstrukturen als mehr oder weniger geschlossene Gesellschaft zu erhalten. Wer diese Positionen vertritt, findet die Gewerkschaften – und zwar geschlossen – immer als entschiedene Gegner."

 

Maria Weber hatte die Samthandschuhe, von denen sie sprach, abgelegt. Black Mary’s Paukenschlag sollte später die Presse titeln, um ihre Schimpftiraden in Richtung CSU zu verkünden. Überhaupt war das Presseecho enorm, was weniger mit den bildungspolitischen Inhalten der Konferenz zu tun hatte. Das Ereignis war die streitbare Gewerkschafterin Maria Weber selbst, die zur "Unzeit", wie es schien – im Vorfeld wichtiger Wahlkämpfe –, ihre eigene Partei auf das Schärfste angegriffen hatte. Dabei wusste Maria Weber, dass sie mit ihrer engagierten Rede gegen die Kritiker der Gesamtschule in den Unionsparteien für Unruhe sorgen würde. Am Ende wurde es mehr als das. Tags darauf stand ihr Telefon in Essen nicht mehr still. Vertreter aus der CDU-Parteizentrale, aber auch christlich-soziale Leitfiguren wie Norbert Blüm schimpften über die Aufmüpfigkeit Maria Webers. Die Gewerkschafterin bedrohte den Frieden, den die CDU mit Strauß gemacht hatte.

 

Maria Weber kalkulierte mit dem Presseecho, das ihre Äußerungen auslösen musste. So bestimmte ihre Gesamtschulkampagne mit einer beachtlichen Resonanz für einige Tage die Schlagzeilen im bundesdeutschen Blätterwald. Und dass Maria Weber die Gewerkschafter im Saal erleichtert zujubelten, als endlich "ein Christdemokrat gegen die Bayern und ihren ideologischen Feldzug gegen die sozialliberale und arbeitnehmerorientierte Bildungspolitik" aufmuckte, kam ihr zudem sehr gelegen. Sie legte damit – wieder einmal – eine Expertise vor, wie die Einheitsgewerkschaft à la Maria Weber funktionierte.

 

 

Mehr über Maria Weber finden Sie auch hier

– etwa zu ihren umstrittenen Positionen für das Abtreibungsrecht in den 1970er Jahren

 

Diese Einheitsgewerkschaft war in ihrem politischen Engagement am Ende der 1970er Jahre immerhin so mächtig, dass sich die bayerischen Christsozialen zu einer überzogenen Reaktion auf Maria Webers Essener Auftritt hinreißen ließen. Das Parteiorgan der CSU, der Bayernkurier, forderte anklagend und öffentlich unter der Überschrift Frau Weber gehört nicht in die CDU den Parteiausschluss der stellvertretenden DGB-Vorsitzenden. In der Ausgabe vom 7. November 1979 hieß es, dass Maria Weber sich fragen lassen müsse, "welchen linken Zwecken ihre Doppelmitgliedschaft im DGB-Vorstand und in der CDU (...) eigentlich noch zu dienen hat." Die CSU-Parteipresse wetterte: "Oder lässt sich diese Frage nur noch an die CDU-Führung richten, die ja wohl in der Pflicht steht, ihre Bildungspolitiker und damit ihre Bildungspolitik gegenüber solcherlei gehässigen Anwürfen einer Parteifreundin zu schützen – dauerhaft, also durch Ausschluss zu schützen?"

 

Mit diesem Versuch einer Gegenkampagne hatte man in München den Bogen überspannt. Reflexartig solidarisierten sich wichtige Vertreter der CDU-Sozialausschüsse mit ihrer führenden Gewerkschafterin. Norbert Blüm und Heiner Geißler erinnerten die bayerische Schwesterpartei an die Bedeutung der freien Meinungsäußerung in einer Volkspartei. Hanshorst Viehof, Mitglied im Bundesvorstand der CDU-Sozialausschüsse, wurde in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau deutlicher. Ein "stalinistisches Kaderpartei-Verständnis" habe die CSU, was deutlich geworden sei, als jetzt der Bayernkurier in "Stürmer-Manier" über Maria Weber hergefallen sei. 

 

Für die westdeutsche Presse war der eskalierende Streit zwischen Vertretern der CDU und CSU im Vorfeld bedeutender Wahlen ein Fest. Maria Webers Gesamtschulkampagne wurde dadurch bundesweit transportiert. Ihre Provokationen wurden zum Treibsatz ihrer Öffentlichkeitsarbeit. Zugleich konnte Maria Weber anschaulich vermitteln, wie tief der Graben zwischen den CDU-Gewerkschaftern und der CSU war. 

 

Das hatte Maria Weber bereits im Juli 1979 im Vorfeld der Essener Konferenz deutlich gemacht. In einem Rundschreiben der Arbeitsgemeinschaft der christlichen Gewerkschafter in der CDA, der Maria Weber vorstand, hatte die Gruppe offen erklärt, dass sie mit der Wahl von Franz Josef Strauß zum Kanzlerkandidaten der Union nicht einverstanden sei – Favorit der CDU-Gewerkschafter war Ernst Albrecht. Dabei beließ es Maria Weber jedoch nicht. Die Arbeitsgemeinschaft stellte Strauß zur Rede, indem man ihn über die Presse zu einer Stellungnahme über seine Position zur Einheitsgewerkschaft aufforderte.

 

In einem Brief antwortete Edmund Stoiber als Generalsekretär der CSU prompt. Erkennbar verärgert monierte er darin, dass die CDU-Gewerkschafter über die Presse angefragt hätten – anstatt direkt bei der CSU-Landesleitung. Stoiber referierte die Positionen der CSU zur Gewerkschaftsfrage. Schließlich ging er auf die Auseinandersetzung ein, welche die CSU "wegen des Missbrauchs" des DGB zugunsten der SPD – so Stoiber – führe. Unmissverständlich wies er darauf hin, dass die CSU die gewerkschaftliche "Monopolstellung" des DGB, wie er es nannte, für korrekturbedürftig halte. 

 

Dies war eine klare Aussage darüber, dass die CSU miteinander konkurrierende Gewerkschaften befürwortete. Nach dem Motto "Teile und herrsche!" sollte die Einheitsgewerkschaft geschwächt werden. Dies war exakt der Gegenentwurf zu einer politisch einflussreichen Einheitsgewerkschaft nach der Vorstellung Maria Webers. In ihr waren alle Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter vereint in dem Interesse, für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Verbesserungen zu erwirken. Politische Unabhängigkeit bedeutete dann, nicht unpolitisch zu agieren, sondern das Gegenteil: auf allen verfügbaren Kanälen in allen Parteien für die Umsetzung von Arbeitnehmerinteressen mit aller Kraft zu wirken.

 

Dieses Lebensziel Maria Webers hatte der Generalsekretär der CSU in seinem Brief angegriffen. Fortan hatten Edmund Stoiber und die Bundestagswahlkampagne der CSU mit Maria Weber eine unionsinterne Gegnerin. In München unterschätzte man das – bis zum Auftritt Maria Webers auf der Essener Bildungskonferenz.

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Zitation

Stefan Remeke: Eine Gewerkschafterin gegen Stoiber und Strauß – Von der Kunst der Provokation, Version 1.1, in: herb. Beiträge zur Geschichte der Arbeitswelt – Das Webjournal der agentur für historische publizistik, 14. Dezember 2022, letztes Update vom 31.12.2022.